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«Schweizer Ecke» in der Altstadt von Havanna (Gelesen: 1819 mal)
01. Juli 2003 um 12:42
errue   Ex-Mitglied

 
«Schweizer Ecke» in der Altstadt von Havanna
Gelder der Entwicklungshilfe schaffen neue Wohnqualität   

bau. Havanna sei nicht nur die Stadt der Säulen und Paläste, sondern auch die Stadt der eingestürzten Gebäude, schrieb unlängst der preisgekrönte, in Havanna geborene kubanische Schriftsteller Abilio Estévez. «Los palacios distantes» (Die entfernten Paläste) ist der Schlüsselroman par excellence einer dem Zerfall geweihten Metropole und eines Regimes in seiner Endphase. Victorio, ein fatalistischer Staatsbeamter, irrt von Ruine zu Ruine, nachdem das baufällige Gebäude, in dem er seine bescheidene Behausung hatte, auf obrigkeitlichen Befehl hin dem Erdboden gleich gemacht worden ist. Selber träumt er von einem Leben in luxuriösen Palästen auf entlegenen Inseln. Doch der Alltag in der Altstadt von Havanna macht ihn zum Entdecker und Beschreiber der erstaunlichsten Formen und Arten von Gebäudezusamenbrüchen. Sein Fazit, als Einzeiler im Textablauf besonders hervorgehoben: «Wenn es etwas in dieser Stadt im Überfluss gibt, dann sind es Einstürze.»

Plätze statt Ruinen
Zu einer solchen Einsturzstätte führt uns Julio Portieles, ein lebhafter junger Ingenieur, der im Büro des Stadthistorikers für neue Sanierungsprojekte mit Finanzierung aus dem Ausland zuständig ist. Vom Hafenquartier geht der Gang in die engen Altstadtgassen hinein. Nach einem tropischen Regenguss tropft es kräftig von den Hausdächern, sind die uneben gepflasterten Strassen und Gehsteige voller Pfützen und kleiner Seen. Gerüststangen ziehen sich an alten Fassaden hoch, Holzbalken stützen Balkone und Häuserfronten. Auf den Gehsteigen türmen sich Schutt und frischer Sand für die Aufbereitung von Zement. Dann, an der Kreuzung zwischen den Gassen Cuba und Amargura ein 3000 Quadratmeter grosses, scheusslich anzusehendes Trümmerfeld. Hinter dem Maschenzaun erhebt sich die sauber gemauerte Fassade einer katholischen Kirche aus der Kolonialzeit, daneben das stattliche Gebäude der Akademie der Wissenschaften, wo man seinerzeit auch den Physiker Albert Einstein geehrt hatte.

«Das ist die Schweizer Ecke», sagt Portieles schelmisch lächelnd. Dort, wo baufällige Wohnhäuser demoliert wurden, soll mit Schweizer Hilfe ein Park entstehen. Viel Grün, ein Brunnen, Kinderspielzeug und die Statue von Carlos Finlay, dem Entdecker des Überträgers des Gelbfiebers, werden im heruntergekommenen Armenquartier einen neuen Merkpunkt und Kontaktraum schaffen. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) hat im Rahmen eines internationalen Programms zur Unterstützung der Altstadtsanierung von Havanna einen entsprechenden Baubeitrag zugesagt. Angespornt durch ähnliche Projekte des Entwicklungsprogramms der Uno sollen neben der Grünanlage auch die Wiederherstellung von Sozialwohnungen in Altliegenschaften und die Einrichtung eines Theatersaals für behinderte Kinder in einem alten Franziskanerkloster finanziert werden. Für die drei Infrastrukturprojekte, die so ganz nebenbei auch Schweizer Präsenz in Kuba in einem vielbegangenen Quartier sichtbar markieren sollen, stellt die Deza aus Steuergeldern 675 000 Franken zur Verfügung. Die kubanische Seite übernimmt die Lohnkosten für Projektierung und Bauarbeiten.

Selektive Wahrnehmung
Es heisst, dass knapp drei Viertel aller Touristen, die auf Kuba Sand, Meer und Sonne suchen, mindestens einen Tagesausflug in das romantisch anmutende Gassengewirr der Altstadt von Havanna machen. Alle Reiseführer schreiben es: Man müsse «La Habana vieja» gesehen haben, die Barockfassade der Kathedrale, die Paläste der Noblen, den beschatteten Hauptplatz aus der Zeit der spanischen Kolonialherrschaft oder die von Sitzbänken gesäumte Flaniermeile, genannt El Prado. Längst haben sich die Anwohner der Altstadtgassen an die lärmigen Besucher in Shorts und Sandalen gewöhnt. Seit Jahrzehnten leben sie zusammengepfercht in immer weiter unterteilten modrigen Altwohnungen, in zugigen Verschlägen auf Dachterrassen oder in heruntergekommenen Innenhöfen. Zerfall, Strassendreck und stinkender Kot werden von wortgewaltigen Reiseführern weggeredet, während Herr Müller und Frau Meier beim Stadtspaziergang den Hauch der alten Pracht und den - zweifelhaften - Charme der Dekadenz auf sich wirken lassen.

Nach wie vor ist der Altstadtkern von Havanna, wo 25 000 Menschen pro Quadratkilometer zu überleben versuchen, nur bruchstückhaft renoviert. Ganz zu schweigen vom Rest der altehrwürdigen Wohn- und Geschäftsviertel der 2,2 Millionen Einwohner zählenden Stadt, wo der Verputz wie eh und je von den Fassaden bröckelt und Dächer und Dielen regelmässig einstürzen. In den ersten Jahrzehnten nach dem Triumph der Revolution war die als Sündenbabel der Diktatur Batista verteufelte Hauptstadt absichtlich vernachlässigt, der Zuzug aus den Provinzen gebremst worden. Kubas Entwicklung liege auf dem Land, hiess die offizielle Parole. Erst die Bedürfnisse der Dollar bringenden Touristen, nicht etwa diejenigen der verelendenden Bürger, haben das Castro-Regime die Sehenswürdigkeiten der Vergangenheit wiederentdecken lassen. Mit einem Dekret aus dem Jahr 1993, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Castro das Wasser bis zum Hals stand, wurden die Sanierungs- und Renovationsarbeiten in Alt-Havanna zur Chefsache erklärt. Das Büro des Stadthistorikers, seit 1938 mehr ein Intellektuellenzirkel als eine schlagkräftige ausführende Behörde, wurde direkt dem Staatsrat, der kubanischen Regierung, unterstellt und mit weitgehender finanzieller Autonomie ausgestattet.

Sisyphusarbeit in den Tropen
Seither hat der Historiker und Archäologe Eusebio Leal, ein treues Mitglied der Nomenklatura, den diskreten Reiz des Kapitalismus entdeckt. Vorwiegend aus selber erwirtschafteten Mitteln und internationalen Spenden will er trotz der permanenten Wirtschaftskrise des Revolutionsregimes dem unaufhaltsam zerfallenden Moloch zu Leibe rücken. Das Büro des Stadthistorikers hat Leal zur Holding umgestaltet, deren Tochtergesellschaften auch ausländisches Privatkapital zulassen. Bei einem Umsatz von 70 Millionen Dollar 2002 haben vier eigene Baugesellschaften, ein Reisebüro, eine Autovermietung, ein Reinigungsservice sowie drei Immobiliengesellschaften - Habaguanex, Fenix und Aurea - um die 25 Millionen Dollar Reingewinn erwirtschaftet; 1994 waren es noch bescheidene 3 Millionen Dollar gewesen. Habaguanex allein betreibt in Eigenregie 15 Boutique-Hotels mit insgesamt 450 Zimmern, 50 Restaurants und ebenso viele Souvenirläden. Knapp die Hälfte des Reinertrags investiert der Stadthistoriker in neue Bauprojekte. 35 Prozent werden für soziale Zwecke ausgeschieden, und der Rest geht in die Staatskasse.

International gewürdigtes Vorzeigeobjekt des Stadthistorikers ist der urbanistische Gesamtplan für den 1982 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärten Altstadtkern. Bis heute wurden über 200 meist öffentliche Gebäude restauriert - ein Tropfen auf einen heissen Stein. Zum Liegenschaftsbesitz gehören auch 20 Museen und 10 historische Gebäulichkeiten, die zur Besichtigung geöffnet werden. Doch Alt-Havanna soll nicht zur mumifizierten Fassadenstadt für den Touristengebrauch verkommen. Immer mehr Projekte des Stadthistorikers sind auf die Erhaltung von privatem Wohnraum, die Schaffung von Einkommensquellen und die Verbesserung der Lebensqualität für die 100 000 Bewohner der Altstadt ausgerichtet. Vorderhand liegt das Schwergewicht auf der Rekonstruktion strategischer Achsen zwischen den wichtigsten Plätzen. Hinter abgebrochenen Gebäuden, wo riesige Wandflächen das Panorama verunzieren, behilft man sich mit Staffagen, auf denen zum Entzücken der Touristen detailgetreue Graffiti das Leben in der Kolonialzeit heraufbeschwören. Den Kubanern müssen die Theaterkulissen allerdings eher wie Potemkin'sche Dörfer vorkommen.

 
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