Brief aus Havanna
Freunde, Feinde, Mitmenschen!
Diese unter der Oberfläche nach wie vor brodelnde Stadt hat wieder ein Opfer gefordert, und wie häufig hat es auch
dieses Mal einen aus meiner Stammkneipe erwischt. Nein, tot ist er noch nicht, der Armin, aber lange wird er es nicht
mehr machen, fürchte ich. Auf dem Gewissen hat ihn Odalys, eine hochgewachsene Mulattin mit den hier üblichen körperlichen Vorzügen, einem schönen Gesicht, einem strahlenden Lächeln und endlos guter Laune. Sie
beehrte uns mit einem Besuch in unserer Kneipe im Herzen der Stadt, und schon war es um Armin – alleinstehend, alleinfallend, geübter Einzelkämpfer ohne lebende
Verwandte – geschehen. Mit vollen Segeln brauste er in das, was er die größte Katastrophe seines immerhin
60jährigen Lebens nennt. Odalys setzte Plan A um. Plan A beruhte auf einer Voraussetzung: niemals den wahren Namen nennen. Odalys hieß nicht Odalys, sie hieß Yunelis. Und Yunelis hatte sich auf reife Ausländer auf
der Suche nach Liebe und mit einem akzeptablen
finanziellen Hintergrund spezialisiert.
Armin war ihr dritter. Nach ein paar Wochen meldete Odalys sich schwanger. Armin – wie gesagt:
alleinstehend, alleinfallend, ohne lebende Verwandte – sah einen reichen Lebensabend vor sich. Er würde Liebhaber,
Mann und Vater sein. Er würde endlich zur Ruhe kommen. Er kaufte auf den Namen der zukünftigen Mutter seines
zukünftigen Sohnes eine Wohnung und richtete sie komplett ein – vom Klodeckel bis zur Video-Anlage. Er war so glücklich, dass er eine Weile sogar die Finger von anderen Mädchen ließ, was nicht unbedingt seinem Charakter entspricht. Aber dann wurde er wieder fipsig.
Odalys beschäftigte eine Gruppe von Spionen, Kundschaftern und Zuhältern. Nach zwei Tagen wusste sie Bescheid. Als Armin morgens um drei die Tür seines angemieteten Zimmers öffnete -in der gekauften Wohnung durfte er aus Gründen der kubanischen Rechtslage nicht schlafen – erhielt er einen Faustschlag aufs rechte Auge. Die zukünftige Mutter seines zukünftigen Kindes war
nicht nur hochgewachsen, sondern auch ziemlich kräftig. Das Schwarz um Armins Auge herum hielt sich gute zwei
Wochen. Aber Armin ist kein nachtragender Mensch. Armin verzieh, Odalys verzieh, und man versöhnte sich.
Aus ungeklärten Gründen verlor Odalys ihre Leibesfrucht. Man musste von vorne anfangen. Es war ein Kinderspiel.
Nach drei Wochen meldete Odalys die nächste Schwangerschaft. Armin begab sich ein zweites Mal auf den Weg in den siebten Himmel. Diesmal kaufte er einen
schönen 53er Dodge. Das Auto durfte er aus Gründen der kubanischen Rechtslage weder besitzen, noch fahren.
Er trug es auf den Namen unseres Rausschmeißers in der Stammkneipe ein. Der ist ein ehemaliger Olympiaboxer und
gilt folglich als vertrauenswürdig. Das Auto hatte die Tendenz, Pannen zu entwickeln. Der Rausschmeißer nahm die Sache in die Hand, so gründlich, dass Armin den Dodge etwa alle zwanzig Tage zu sehen bekam. Da erst, Freunde, Feinde, Mitmenschen, dämmerte es Armin, dass er gnadenlos ausgenommen wurde. Nur sein Selbstwertgefühl, ein ziemlich hoch entwickeltes, verhinderte, dass er den ganzen Ernst der Lage erkannte.
„So blöd bist du nicht, Armin“, sagte das Selbstwertgefühl. „Das wissen schließlich alle. Mach dir keine Sorgen,
Armin! Du bist und bleibst der Größte.“ Die wunderbare Stadt, in der wir uns herumtreiben, forderte langsam ihren
Tribut. In der Schwüle der Nächte, in der allgegenwärtigen Erotik, inmitten all ihrer Unfassbarkeiten, im Nebel der Rumräusche, im Rahmen der allgemeinen
Verantwortungslosigkeit der Gruppe von Knallköpfen in der Kneipe verwischten sich die Konturen. Schon nach
ein paar Wochen in Havanna wird es ziemlich schwierig, gut und böse auseinander zu halten. Oder Sex und Liebe unter einen Hut zu bringen. Oder die eigene Art des Seins zu bewerten. Das Ganze läuft nach Gesetzen, die sonst nur in der Psychiatrie gelten. Das Ganze führt früher oder später ins Unglück. Oft hilft nur noch, das Land zu wechseln, aber jeder hofft darauf, die Ausnahme zu sein.
Als Armin zu Ohren kam, dass Odalys auch diesmal nicht schwanger war, als er sie beim Liebesspiel mit einem Kubaner (auch das noch!) auf dem Flachdach über seinem Zimmer erwischte und als man ihm zutrug, sie habe jetzt einen Spanier, rastete er aus. Er versank in Strömen von Havanna Club und sann auf Rache. Das können die Kubaner allemal besser. Also forderte Armin sein Auto zurück, aber er bekam es nicht mehr. Schließlich war es auf den Namen des Rausschmeißers eingetragen, und der konnte es gut gebrauchen und sattelte auf illegaler
Taxifahrer um. Armin gewöhnte sich an, jeden Tag
mindestens zwei Mädchen auf seine Bude zu holen. Die pflegten sein Geld zu stehlen, denn er konnte nicht mehr
darauf aufpassen. Ein Stockwerk tiefer schlug er – angezogen wie ein Pfau – Rad in der Kneipe. Aber er hatte einen Zulauf wie sonst keiner. Er gab sich großzügig,
und er war es auch. Aber er taumelte auf einen Abgrund ohne Wiederkehr zu. Dennoch schlug er sich wie ein kräftiger Gorilla mit den Fäusten auf die Brust. Sein Ruf in der Stadt festigte sich. Er war genau das, worauf man gewartet hatte. Dann besuchte er mich, und in meiner
anderen Stammkneipe, in der man mit kubanischen Pesos bezahlt und folglich alles viel billiger ist, machte er die Theke mit seinen Tränen nass. Schließlich heiratete er in einer Blitzaktion die Vermieterin seines Zimmers, um wenigstens der kubanischen Rechtslage die Spitze
zu nehmen. Jetzt ist er in Mexiko. Ob er jemals wiederkommt, weiß keiner. Warum ich euch das alles schreibe? Damit ihr nicht unterschätzt, worauf ihr euch einlasst, wenn ihr den Rahmen sprengt und euch freiwillig in die Achterbahn setzt. Sie kann entgleisen.
Bis zum nächsten Brief!
Henky Hentschel

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